MFG - Das deutsche Mädel kommt nach Hause
Das deutsche Mädel kommt nach Hause


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Das deutsche Mädel kommt nach Hause

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2014

Es gibt Geschichten, die so unglaublich klingen, dass man sie für frei erfunden oder bestenfalls Stoff eines konstruierten Hollywoodschinkens hält – und doch zeigt die Wirklichkeit, dass die unglaublichsten, die dichtesten Geschichten noch immer das Leben selbst schreibt. Geschichten voller Hoffnung und Verzweiflung, voller Brutalität und Güte, ebenso nahe am Leben wie am Tod. Geschichten wie jene von Helga Gritsch und Norbert Pohl.

Wenn man Helga Gritsch in ihrem Haus in Wagram am Tisch sitzen sieht, könnte man äußerlich keine Rückschlüsse auf ihr wechselvolles Schicksal, das sie vor allem in ihrer Kindheit hart, ja lebensbedrohend anfasste, ziehen. Gritsch wirkt in ihrem Gesamthabitus optimistisch, lebensbejahend, aufgeräumt. Ihre Worte wählt sie mit Bedacht, von Emotionen lässt sie sich kaum übermannen. „Aber natürlich sind mir einige Ticks zurückgeblieben – ich halte zum Beispiel keine verschlossenen Türen aus, da fühl ich mich eingesperrt.“ Und als sie und ihr jüngerer Bruder Norbert, der sich ebenfalls zu uns an den kleinen Ess­tisch gesellt hat, vor einigen Jahren ihr Tschechisch auffrischen möchten, das sie als Kinder fließend sprechen konnten, versagt der Geist (bzw. das Herz?) den Gehorsam. Dabei kann Helga Gritsch noch heute diverse (kommunistische) Parolen auswendig herunterleiern, und auch Norbert gehen die gelernten tschechischen Lieder der Kindheit leicht von den Lippen, „allerdings kann ich nur mehr die Lautschrift.“ Das Kindheitstrauma, die Vertreibung und die Flucht aus der ehemaligen Heimat, heute als Sudetenland bezeichnet, sitzt zu tief. „Unsere slowakische Lehrerin hat gemeint, dass unsere Psyche aufgrund des erlebten Traumas die Sprache einfach nicht mehr frei gibt.“
Ein Monarchieschicksal
Dabei beginnt alles beschaulich im 19. Jahrhundert in der altehrwürdigen Monarchie. Damals, als im niederösterreichischen Unterretzbach Urgroßvater Andreas Pölz in eine Weinhauerfamilie hineingeboren wird, scheint die Welt noch heil. Pölz ist dabei als k.u.k. Husar ein Mann mit Schneid und Standesbewusstsein. „Er war sehr stolz und hat immer gesagt: ‚Bist a Scheißkerl oder a Husar?‘“ Er heiratet eine Ungarin und wird Gutshofverwalter in Deutsch Tschantschendorf (heutiges Burgenland), wo u. a. auch Sohn Ludwig, Norberts und Helgas Großvater, geboren wird. Für Helga Gritsch DIE Leit- und Lebensfigur ihres Lebens. „Zu meinem Opa hatte ich ein ganz besonderes, inniges Verhältnis. Er war ein großartiger, gütiger und mutiger Mann.“ Auch ein vielseitiger. Einerseits arbeitet er als Schmied z. B. am berühmten Wiener Michaelator mit, andererseits zählt er zu den Pionieren der Elektrotechnik in Österreich und wird anlässlich des Geburtstages des Kaisers zum ersten Mal die Gloriette beleuchten. Im Auftrag seiner Majestät verschlägt es ihn auch nach Deutschböhmen, wo er ein Elektrokraftwerk bauen soll – und bleibt „hängen“. Im deutsch dominierten Nixdorf/Mikulášovice wird er sesshaft und heiratet Ida Fischer. Auch diese großmütterliche Linie ist eine historisch aufgeladene: So geht Ernst Fischer als einer der führenden kommunistischen Politiker, Literaten und Intellektuellen Österreichs in die Geschichte ein, sein ebenso politisch aktiver Bruder Walter wird Armenarzt und kämpft im spanischen Bürgerkrieg mit, und auch Bruder Otto ist politisch aktiv. Tante Fini wiederum, wie sie Helga Pohl nennt, avanciert zur ersten Richterin von Graz.
Aus der Ehe von Ludwig Pölz und Ida Fischer geht Ida Pölz, die Mutter von Helga und Norbert, hervor, die in Nixdorf aufwächst und in den 30er-Jahren Josef Pohl, einen deutschen Konditormeister heiratet. Wie damals üblich, übernimmt die Gattin (und somit auch die Kinder) die Staatsbürgerschaft des Mannes – die Pohls werden Deutsche, während die Großeltern als tschechische „Altösterreicher“ gelten. Ein folgenreiches Faktum. Josef Pohl eröffnet am Hauptplatz eine Konditorei, im Obergeschoss wohnt die Familie im Mehrgenerationenhaushalt.
Historischer Webteppich
In all diesen Jahren nimmt die Weltgeschichte unbeirrbar ihren Lauf und ändert die Verhältnisse in den Sudetenländern nachhaltig. Zunächst geht die Monarchie unter und die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete, in denen die deutschsprachige Bevölkerung privilegiert war gegenüber der tschechischen, werden der neuen Republik Tschechoslowakei zugedacht. Die Forderung der deutschsprachigen Bevölkerung nach einer Eingliederung in die neu entstandene Republik Deutsch-Österreich wird von den Ententemächten verweigert. Den Deutschen werden Minderheitenrechte zugestanden, Autonomie bzw. wirkliche Gleichstellung wird aber verweigert. Auf diesem Nährboden entwickelt sich sukzessive ein sich in Teilen der Bevölkerung zusehends radikalisierender Gegennationalismus, der schließlich v.a. in Konrad Henleins nationaler Sudetendeutschen Partei Ausdruck findet, die die Unabhängigkeit bzw. späterhin – im nationalsozialisitischen Fahrwasser bzw. von der NSDAP protegiert, aufgerüstet und als „Spaltpilz“ instrumentalisiert – die Ultimativforderung „Heim ins Reich“ artikuliert. Es kommt zu Zusammenstößen von sudetendeutschen Wehrverbänden mit den tschechoslowakischen Behörden. Mit dem Münchner Abkommen von 1938, das über den Kopf der tschechoslowakischen Regierung hinweg von Deutschland, Frankreich, Italien und England beschlossen wird, werden die Sudetengebiete dem deutschen Reich zugesprochen. Die Tschechen werden zur Minderheit – nur ein Jahr später verleibt sich Hitler die Resttschechoslowakei ein, die Prager Regierung unter Edvard Beneš flieht ins Exil nach London. Zahlreiche Tschechen werden aus den deutschsprachigen Gebieten zwangsausgesiedelt. Nach dem Zerfall des Dritten Reiches werden die Sudetengebiete, wie der tschechischen Exilregierung von den Alliierten bereits während des Krieges zugesprochen, mehrheitlich der neuen Republik Tschechoslowakei zugeordnet und es wird auch der „Entdeutschung“ der Gebiete zugestimmt, wie späterhin in den sogenannten Beneš Dekreten festgeschrieben wird.
Noch vor der offiziellen Kapitulation Deutschlands erfolgen die ersten wilden und brutalen Vertreibungen, die erst späterhin in geordnetere Bahnen gelenkt werden. Im Land bleiben dürfen nur nachgewiesene Antifaschisten, Deutsche, die tschechische Ehepartner haben, und Fachkräfte, deren Know-how man benötigt. Die Deutschen müssen zur Kennzeichnung eine weiße, die Österreicher eine rotweißrote Armbinde tragen, Deutsch als Amtssprache wird verboten, die Besitztümer werden konfisziert. In der ersten „wilden“ Phase müssen die Deutschen oft innerhalb nur einer halben Stunde Hab und Gut zusammenpacken und werden auf Märsche über die Grenze geschickt. Einige davon gehen als „Todesmärsche“ in die Geschichte ein, etwa der Brünner Todesmarsch, dem geschätzte 5.000 Deutsche zum Opfer fallen – v.a. alte Menschen und Kinder erliegen den Strapazen.
Alles in allem handelt es sich um die größte Säuberungsaktion und Massenbewegung nach dem Krieg. Fast drei Millionen Menschen müssen ihre Heimat verlassen, sie siedeln vielfach nach Deutschland, einige auch nach Österreich, das die displaced persons aufgrund der eigenen Versorgungsprobleme nach dem Krieg aber alles andere denn mit offenen Armen empfängt, sondern versucht, die deutschen Staatsbürger weiter nach Deutschland zu „repatriieren“ – ein weiteres leidvolles Kapitel. Unter anderem bestand im ehemaligen KZ in Melk ein Auffanglager, das als Durchgangsstation diente. Trotzdem bleiben viele in Österreich „hängen“, Siedlungen wie in Linz die „Neue Heimat“ sind heute noch Beleg dafür. Auch in Niederösterreich und St. Pölten finden ehemalige Sudetendeutsche ein neues Zuhause, wie Helga Gritsch und Norbert Pohl – nach einer leidensvollen Odyssee.
 
Spielball der Geschichte
An den Kindern (Helga wird 1937, Norbert 1941 geboren) gehen diese großen politischen Umwälzungen unbewusst vorüber – bis sie mit der brutalen Kraft des Faktischen schicksalsschwer über sie hereinbrechen werden. Nixdorf nehmen sie lange als heiles Fleckchen Erde wahr. „Die Menschen im Ort waren einander wohlgesinnt. Die Tschechen waren zwar in der Minderheit, aber alle lebten in Frieden zusammen.“
Erste Spannungen nehmen die Kinder zunächst eher innerhalb der Familie wahr, welche der Radikalisierung der politischen Lager geschuldet sind. „Die Alten weinten der untergegangenen Monarchie nach, es gab Nationalsozialisten, die an Hitler und eine heile Zukunft für die Deutschen glaubten, und es gab Kommunisten.“ Schließlich geht der Riss quer durch die eigene Großfamilie. „Die Fischer-Söhne waren Kommunisten und haben mit ihrem Vater und anderen Familienangehörigen völlig gebrochen – es gab gut 50 Jahre keinen Kontakt zwischen den Familienzweigen bis wir vor ca. 15 Jahren ein gemeinsames Treffen organisierten“, so Helga Gritsch.
Die Eltern selbst waren, wie Sohn Norbert vermutet, „deutsch-national eingestellt.“ Antisemiten seien sie aber keine gewesen, was Helga Gritsch auf den grundsätzlich „tiefgreifenden Humanismus in unserer Familie“ zurückführt. Die Mutter wird dies späterhin eindrucksvoll unter Beweis stellen.
Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, wird Josef Pohl zur Wehrmacht eingezogen und fällt in der Schlacht von Stalingrad. „Bei seinem letzten Front­urlaub 1941 hat er mich gezeugt“, sagt Norbert Pohl nüchtern. Seinen Vater wird er nie kennenlernen, nur ein Stammbuchblatt, das eingerahmt über der Eckbank im Esszimmer von Helga Gritsch hängt, erinnert noch an den verlorenen Vater.
Im Dorf selbst stellt sich zunehmend Kriegsalltag ein. Tante „Rosl“ und die Mutter arbeiten für das Rote Kreuz. In die zum Lazarett umfunktionierte Schule nimmt sie auch die kleine Tochter mit. „Sie hat mich dann zu den Soldaten ans Bett gesetzt und gesagt ‚Weißt du, die armen Männer haben zuhause auch eine Familie, die sie sehr vermissen.‘ Ich war sozusagen das ‚Trostkind‘.“ Im Rückblick hält Gritsch diese Erfahrungen für lebens­prägend. „Ich glaube, daher erklärt sich meine gelassene Beziehung zu Männern, und mich haben auch nie Krankheit oder Verwundungen schockiert, weil ich dort tagtäglich die zerfetzten Körper und zerschossenen Soldaten gesehen habe.“
Traumatisch haben sich hingegen die Fliegerangriffe eingebrannt. „Wir mussten immer in den Bunker flüchten. Einmal wäre ich beinahe erstickt, weil ich auch eine Gasmaske tragen musste. Da bin ich raus, trotz Beschuss.“ Noch heute wundert sie sich „wie uns die Erwachsenen über diese schlimmen Momente hinweggetragen haben. Ich kann mich erinnern, wie wir im Keller gesungen und gebetet haben.“
Unvergessen bleibt Gritsch außerdem die Nacht von 13. auf 14. Februar 1945. „Der Nachthimmel war hell erleuchtet und ich hab gerufen: ‚Mutti, da fallen ja 1.000 Christbäume vom Himmel.‘“ In Wahrheit handelte es sich um aufgewirbeltes, glühendes Material aus dem 60 Kilometer entfernten Dresden, das eben bombardiert wurde.
Als die Front näher rückt, ist die Bevölkerung angehalten, Gräben für Panzersperren auszuheben. „Meine Tante und meine Mutter haben mich mitgenommen – vorher haben sie aber die großen Taschen meiner Schürze mit Brotkrumen angefüllt. Vorort sagte dann die ‚Mutti‘: ‚So, und jetzt Helga, gehst rüber, wo diese armen Männer arbeiten, und lässt die Brotstücke fallen!‘“ Was Helga Gritsch damals nicht weiß: Die abgemagerten Männer sind jüdische Zwangsarbeiter aus dem „Mini-KZ, das es in Nixdorf gab.“ Es ist genau diese mutige Tat der Frauen, welche der Familie schließlich das Leben retten wird. Denn als sich die befreiten Gefangenen und einmarschierende Partisanen im Mai 1945 an der deutschen Bevölkerung rächen, tauchen sie auch vor der Konditorei der Pohls am Hauptplatz auf. „Die ersten begannen schon, das Scherengitter aufzubrechen, da hat jemand gerufen: ‚Halt! Dieses Haus nicht! Es steht unter Schutz. Hier wohnen die Frau und das Kind!‘ Das werde ich nie vergessen!“ Als die Front näher rückt, ist die Bevölkerung angehalten, Gräben für Panzersperren auszuheben. „Meine Tante und meine Mutter haben mich mitgenommen – vorher haben sie aber die großen Taschen meiner Schürze mit Brotkrumen angefüllt. Vorort sagte dann die ‚Mutti‘: ‚So, und jetzt Helga, gehst rüber, wo diese armen Männer arbeiten, und lässt die Brotstücke fallen!‘“ Was Helga Gritsch damals nicht weiß: Die abgemagerten Männer sind jüdische Zwangsarbeiter aus dem „Mini-KZ, das es in Nixdorf gab.“ Es ist genau diese mutige Tat der Frauen, welche der Familie schließlich das Leben retten wird. Denn als sich die befreiten Gefangenen und einmarschierende Partisanen im Mai 1945 an der deutschen Bevölkerung rächen, tauchen sie auch vor der Konditorei der Pohls am Hauptplatz auf. „Die ersten begannen schon, das Scherengitter aufzubrechen, da hat jemand gerufen: ‚Halt! Dieses Haus nicht! Es steht unter Schutz. Hier wohnen die Frau und das Kind!‘ Das werde ich nie vergessen!“
Ebenso wenig wie die ersten Trecks mit deutschen Flüchtlingen, die alsbald durch den Ort ziehen, oder „die Särge vor der Tür der Lehmanns – die haben sich alle das Leben genommen, wahrscheinlich waren sie Nazis.“
Die Vertreibung
Im Haus der Familie werden Partisanen untergebracht, „die haben mir aber nichts getan, wobei auch eine Partisanin darunter war, die eine schreckliche Person war, die die Gefangenen gequält hat.“ Sie ist Aufseherin im ehemaligen KZ, wo nunmehr die vorbelasteten Deutschen eingesperrt werden. Auch die Mutter muss ins Straflager, „wo sie u.a. zur Rache zum Frühstück so Hitler Karten aus Papier essen mussten.“ Die schwere Zwangsarbeit in der prallen Sonne raubt der Mutter zusehends die Kräfte. „Sie wurde todkrank, schließlich hat man sie nachhausegeschickt‚ weil sie zuhause genausogut sterben könne.“ Ida Pohl ist aber eine Kämpfernatur und überlebt.
Eine Verschnaufpause ist der Familie aber nicht vergönnt. Im selben Jahr noch heißt es eines Tages, dass alle deutschen Staatsbürger, also auch Ida und ihre Kinder Norbert und Helga, ausgewiesen werden. Sofort! „Innerhalb einer halben Stunde mussten wir alles einpacken, was wir nehmen konnten. Meine Mutter hat ein Kinderwagerl angefüllt. Ich erinnere mich noch, wie meine Großeltern geweint haben, und wie wir durch ein Spalier aus Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren marschiert sind.“ Was das achtjährige Kind in diesem Moment aber fühlt, ist nicht nur Demütigung, nicht nur Angst, sondern auch Stolz als ihre Form von Widerstand. „Ich hab zur Mutti gesagt: ‚Bitte Mutti, wein jetzt nicht! Sie sollen nicht sehen, wie weh uns das tut.‘“
Wohin die Reise geht, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. Helga Gritsch empfindet es im Nachhinein als Glück, dass der Marsch letztlich „nur“ in das 45 Minuten entfernte Sebnitz in Sachsen führt. „Ein Leid wie der Brünner Todesmarsch blieb uns erspart!“ An Menschen, „die ermüdet am Straßenrand und in den Feldern liegen blieben“, erinnert sich aber auch Gritsch. Ebenso wie an einen „Engel“, der die Familie aufnimmt. „Die Stadt war voller Flüchtlinge, wir wussten nicht wohin – da ist ein Mann auf der Straße an uns herangetreten und hat uns auf seinem Dachboden versteckt.“ Die Familie findet Unterschlupf, die Mutter aber bricht zusammen. „Sie hatte mehrere Herzanfälle, ich kann mich noch erinnern, wie sie sich am Boden gewunden hat.“ Und die junge Frau steht mit nichts da, muss ihre Kinder betteln schicken. „Dieses Erlebnis hat mein Leben so geprägt, dass ich später immer weinen musste, wenn ich etwas geschenkt bekommen habe. Und zu meiner Mutter habe ich damals gesagt ‚Ich möchte lieber sterben, bevor ich noch einmal betteln gehen muss.‘“
U-Boot
Die Situation scheint aussichtslos, die Mutter ist schwer krank, und so trifft Ida Pohl eine folgenschwere Entscheidung. „Sie hat mit einer Schlepperin Kontakt aufgenommen, die uns zu den Großeltern in die Tschechoslowakei zurückbringen sollte, während sie in Deutschland blieb.“ Über eine alte Schmugglerstraße bringt diese die Kinder bei Nacht und Nebel über die Grenze. In einem Fichtelwald „wahrscheinlich hat sie was gemerkt“, nimmt sie aber plötzlich Reißaus. „Sie hat nur noch gesagt ‚Versteckt euch hier, ihr werdet geholt werden‘ – dann war sie weg und wir zwei Kinder waren mitten im Wald mutterseelenallein.“
Während Norbert keinerlei Erinnerung an dieses Erlebnis hat, als wäre es aus Selbstschutz auf ewig ausgebrannt, weiß Helga Gritsch noch ganz genau „wie wir zwei uns verängstigt ganz eng aneinander gekauert haben. Ich weiß aber nicht mehr, wie lange wir dort waren, Minuten, Stunden. Irgendwann aber – das war, wie wenn ein Engel aus dem Nichts erscheint – sind plötzlich unsere Großmutter und unsere Tante Rosa an uns herangerobbt und haben uns unter Lebensgefahr, es wurde ja überall patroulliert, nach Hause gebracht.“
Dort beginnt für die zwei Kinder die nächste Station ihrer Odyssee. Sie müssen als illegale U-Boote im Haus untergetaucht bleiben. „Wir mussten uns immer verstecken, wenn Razzien waren – und das war oft der Fall. Wir versteckten uns in Schränken, Kisten, am Dachboden, im Keller, überall“ Einmal auch, weil sie überrascht werden, nur mehr rasch unter dem Bett der Großeltern, „über das eine Decke gehängt war, die bis zum Boden reichte. Wir waren mucksmäuschenstill, aber dann sah ich plötzlich Stiefel und merkte, wie die Decke gehoben wurde.“ Nach ein paar Momenten wird sie aber wieder gesenkt, „ich bin mir sicher, dass uns der Soldat gesehen, aber nichts verraten hat.“
Das geheime Leben ist gefährlich und die stete Angst, gefasst zu werden, nur schwer zu ertragen. In ihrer Verzweiflung wendet sich die Großmutter schließlich an eine Freundin, die mit einem hohen tschechischen Beamten liiert ist, um Hilfe. „Das klingt jetzt wieder unwahrscheinlich und erinnert an die biblische Geschichte von König Herodes und der Tänzerin. Aber nach einer erfüllenden Liebesnacht hat der Beamte zu seiner Freundin gesagt ‚du darfst dir wünschen, was du willst‘, und sie hat ihm von den deutschen, versteckten Kindern erzählt, und dass sie wieder ein normales Leben führen können sollen. Der Mann hatte seine Bedenken, die Sache war gefährlich, bei einem Saufgelage im Rathaus hat er aber dennoch die Chance beim Schopf gepackt und den alkoholisierten zuständigen Beamten gehänselt: ‚Du bist ja so betrunken, du kannst nicht einmal mehr deine eigene Unterschrift schreiben.‘ Der hat das nicht auf sich sitzen lassen, und so hat er auf ein vom Beamten hingehaltenes Schriftstück seine Unterschrift gesetzt – tatsächlich hatte der ihm unsere Aufenthaltsbewilligung untergeschoben.“
Kurzes Durchatmen
In Folge setzt für die Kinder ein einigermaßen normales Leben ein. Sie kommen in die Volksschule, wo sie rasch tschechisch lernen und voll integriert sind. „Ich hatte eine liebevolle Lehrerin, und im Grunde genommen hat uns niemand etwas getan.“ Auch Norberts Erfahrungen sind positiv, wenngleich er einräumt, „dass es sicher auch ein paar gegeben hat, denen man besser aus dem Weg gegangen ist. Mir hat aber einmal einer auf der Straße eine Ohrfeige gegeben – den hat mein Großvater zur Rede gestellt.“
Die Dorfbewohner halten auch dicht, wenn die Kinder illegal über die Grenze gehen, um die Mutter in Deutschland zu besuchen. „Offiziell sind wir immer Heidelbeeren brocken gegangen in den Wald. Damals ist das noch gegangen, weil noch nichts vermint war und auch der Eiserne Vorhang noch nicht hochgezogen war.“
Die endgültige Vertreibung
Die „ruhigen“ Jahre währen aber nur kurz. 1949 müssen auch die österreichischen Großeltern ihre Heimat verlassen. Diesmal läuft die Abschiebung in geordneteren Bahnen, der Verlust der Heimat ist aber nicht minder deprimierend. Ein Eisenbahnwaggon steht bereit, die Österreicher dürfen diesmal auch „Möbel, Geschirr etc. mitnehmen – aber den Großteil mussten wir trotzdem zurücklassen.“ Das Schlimmste aber ist: Die Ausweisung gilt nur für die österreichischen Großeltern, nicht aber für die deutschen Kinder – sie sollen in ein tschechisches Waisenhaus im Landesinneren gebracht werden. „Meine Großmutter war so verzweifelt, dass sie meinen Bruder und mich bei der Hand genommen und mit uns zum großen Dorfteich gegangen ist. Dort hat sie gesagt, wir sollen hineinlaufen. Ich habe meine ganze Kraft zusammengenommen und versucht sie zurückzuziehen und hab sie angefleht ‚Kehren wir um Großi!‘, was schließlich auch gelungen ist.“ Die Kinder zurückzulassen ist aber keine Option. Noch einmal gehen die Großeltern daher aufs Ganze. „Der Zug stand schon im Bahnhof. Ein Beamter erstellte im Haus eine Inventarliste – was man nicht mitnehmen konnte, wurde wie beim Kuckuck markiert, nach der Abreise wurde das Haus versiegelt. Da unterbreitete mein Großvater dem Beamten einen Vorschlag: ‚Ich gehe jetzt eine halbe Stunde spazieren, wenn sie etwas brauchen, nehmen sie es und listen es nicht auf. Dafür bekomme ich dann auch eine halbe Stunde.‘ Und so haben sie es tatsächlich gemacht – zuerst der Beamte, dann mein Großvater, der in Wahrheit aber nur Zeit gewinnen wollte. Denn kaum war der Beamte weg, hat er uns Kinder geschnappt und ist mit uns zum Bahnhof gelaufen und hat uns in den Waggon geschmuggelt – so sind wir illegal mitgefahren, in ständiger Angst, vielleicht doch noch aufzufliegen.“ Doch der Zug passiert unbehelligt die Grenze und fährt schließlich im Wiener Südbahnhof ein, „wo uns Onkel Lutz aus St. Pölten empfangen hat.“ Er bringt die Familie zunächst bei seiner geschiedenen Frau in Wien unter, bald darauf übersiedelt sie nach St. Pölten, wo die Kinder von den Familien Hofinger und Kellermann und anderen aufgenommen werden. Später besorgt Onkel Lutz ein zwei Zimmer Stüberl im ehemaligen Gasthaus Kubin in Wagram, der heutigen Hazienda. „Da hab ich anfangs zwischen zwei Sesseln auf einem Bügelbrett geschlafen.“ Die Wagramer nehmen die Neuankömmlinge herzlich auf, „so viele haben uns geholfen, besonders Frau Weichhart, die extra einen Stall für uns umbauen ließ. Und um mich sorgte sich auch die Familie Schwertner sehr“, erinnert sich Gritsch. Die Kinder werden eingeschult, die Flucht hat ein Ende.
Trotzdem wird es noch fünf Jahre dauern, bis die Mutter die österreichische Staatsbürgerschaft erhält und aus der DDR ausreisen darf. In all den Jahren wird sie die Kinder nur ein einziges Mal sehen. „Sie hat unter großen Gefahren illegal die Grenze zur von den Sowjets kontrollierten Ostzone überschritten. Die Enns war damals die Demarkationslinie, die hat sie irgendwie durchquert, nur um uns Kinder ein paar Stunden zu sehen.“ Als sie 1954 endlich nach Österreich darf, ist sie schwer gezeichnet von den Entbehrungen des Lebens „und stirbt viel zu früh an Krebs.“ Auch der geliebte Großvater ist zuvor schon verstorben, so als wären die Erwachsenen – nachdem sie die Kinder endgültig in Sicherheit wissen – nunmehr bereit, ihre eigenen, kräftezehrenden Ängste und Sorgen zu verarbeiten, die gnadenlos ihren Tribut zollen.
Norbert Pohl und Helga Gritsch wachsen in Folge als Wagramer auf, ab 1954 auch als offizielle österreichische Staatsbürger – zuvor sind sie staatenlos. Sie heiraten, gehen Berufen nach, gründen Familien. Helga Gritsch hat heute vier Kinder, acht Enkel und zwei Urenkel; Norbert Pohl zwei Kinder und drei Enkel. Beide, was vielleicht mit der selbst erfahrenen Unterstützung zu tun haben mag, sind ihr ganzes Leben lang sozial engagiert.
Die Vertreibung aus der Heimat ist innerhalb der Familie lange Zeit kein Thema. „Wir haben nur selten darüber geplaudert, eine stärkere Beschäftigung erfolgte eigentlich erst nach der Wende“, so Norbert Pohl. Damals besuchen die Geschwister auch erstmals wieder Nixdorf. „Die Leute haben sich gefreut, uns wieder zu sehen.“ Für Helga Gritsch war es „als käme das deutsche Mädchen nachhause.“ Tschechien ist neben Österreich immer ein Stück seelische Heimat geblieben, während der jüngere Norbert derlei Gefühle nie entwickelte: „Ich war immer nur Österreicher.“
Wenn Helga Gritsch heute zurückblickt, dann tut sie es nicht in Wut oder Verbitterung, sondern, was ob dieses Schicksals überrascht, eher in Demut. Ja, sie empfindet sogar eine Art – für die verschonten schwer nachvollziehbare – Relativität des Grauens. „Ich kenne Sudetendeutsche, die können heut noch nicht über ihre schlimmen Erfahrungen reden, ohne in Tränen auszubrechen. Die denken sich vielleicht, was redet die Gritsch da, weil sie noch mehr durchmachen mussten als ich.“ Aber in all dem Leid, das ihr als Kind widerfuhr, hat Gritsch vor allem eines erkannt, das diesen versöhnlichen Blick ermöglicht: „Dass es nämlich Regime, Politiker sind, welche die Menschen gegeneinander aufhetzen, dass aber der einzelne Mensch gütig ist. Mir wurde so oft das Leben gerettet, Mitleid und Hilfe zuteil, von Deutschen, Kommunisten, Juden, Tschechen – das ist es, was wichtig ist!“ Revanchismus, Hass auf die Tschechen empfindet sie daher nicht. „Und was sollte das bringen? Dann müsste ich auch fragen, was vorher die SS, was die Nazis, was Deutsche den Tschechen angetan haben. Dann ginge das immer so weiter, und wir würden nie zu einem Ende kommen.“ Als sie zum Schluss fragt: „Warum ist meine Geschichte überhaupt so interessant? Es gibt doch so viele aktuelle Konflikte auf der Welt, wo genau dasselbe passiert?“, kann man nur antworten: Genau deshalb! Weil die Zeiten rasch instabil werden, weil Menschen allzu rasch in ihrem oft blinden, unversöhnlichen, vielfach durch andere manipulierten Hass vergessen, was Krieg, Leid, Nationalismus und Revanchismus anrichten können. Es geht vor allem um eines: In allem Mensch zu sein und Mensch zu bleiben. Nicht mehr und nicht weniger – und das ist schon sehr viel! „Langsam ist es besser geworden …“
Die heuer bereits in St. Pölten gezeigte Ausstellung des NÖ Landesarchivs in Zusammenarbeit mit dem in St. Pölten situierten Zentrum für Migrationsforschung „Langsam ist es besser geworden ... Vertriebene erzählen vom Wegmüssen, Ankommen und Dableiben“ wird ab 5. November in der Nationalen Gedächtnisstätte Vítkov in Prag zu sehen sein. „Diese wird zum ersten Mal in ihrer Geschichte neben der Dauerausstellung eine andere zeigen, was natürlich im Hinblick auf unsere Thematik fast schon eine kleine Sensation ist“, freut sich Kurator Niklas Perzi, der die Intention so erklärt:„Mit der Ausstellung sollen auch jene gewürdigt werden, die bisher eher im Schatten der Geschichte standen.“ Perzi führte hierzu an die 40 Interviews mit Zeitzeugen.
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